Der Sennestadtverein
Der Sennestadtverein

Sennestädter Geschichten

Von Wilhelm Ruwe

Ende der 1. Runde

Schulabschluß und Konfirmation

 

Man schrieb das Jahr 1925 und es war das letzte Jahr unserer 8jährigen Volksschulzeit. Wie vor 8 Jahren zu Schulbeginn, erklärte man uns immer wieder, daß nunmehr bald der Ernst des Lebens beginne, denn die Schulzeit sei ja doch noch eine der schönsten mit. Nun ja, das konnten wir nicht beurteilen und wurde sich von den einzelnen Schülern, je nach ihrem Verhältnis zur Schule anders gesehen. Die meisten der Jahrgänge 1911/12 hatten das Ziel der Schule vor Augen und befanden sich in der 1. Abteilung der Klasse 1 der 3 Klassigen 1. evgl. Gemeindeschule zu Senne II. Das war in der hierarchischen Struktur durchaus angenehm, denn nunmehr hatten sich die jüngeren Schüler uns unterzuordnen. Die bis dahin geübte strenge Disziplin lockerte sich etwas und Prügelstrafen blieben aus.


Im Konfirmandenunterricht jedoch lockerte sich nichts. Pastor Jansen, fest verwurzelt in preußischer Tradition, regierte weiterhin mit fester Hand über uns. Er glaubte kraft kirchlicher und göttlicher Autorität uns mittels Bibel, Katechismus und Gesangbuch zu ehrlichen Christenmenschen erziehen zu müssen. So war es selbstverständlich, daß wir Konfirmanden jeden sonntäglichen Gottesdienst besuchten. Aber wie es das Leben so mit sich bringt, hatten besonders wir Bengels schon so manche andere Dummheiten im Kopf und während der gefürchteten, schrecklich langen Predigen kam es derweil auf den Böcken unter der Kanzel zu unterdrücktem Gekichere, das meist erst damit beendet wurde, wenn Pastor Jansen mißbilligend mit der Kanzel wackelte und so laut wurde, daß sogar der alte Wißmann, der meist in der 1. Bank allein saß und den Klingelbeutel herumreichte und während der Predigt eingeschlafen war, wach wurde und eilends die Bank herunterrutschte und dem nächst Sitzenden an den Ohren zog. Natürlich drohte uns Pastor Jansen in der nächsten Unterrichtsstunde damit, daß er beim nächsten Mal von der Kanzel kommen würde, um uns zu ohrfeigen. Aber soweit ließen wir es dann doch nicht kommen.


So kam denn unvermeidlich das Jahr 1926 und unser letztes Viertel. In der Schule nahm es seinen gewohnten Gang, nur daß uns insbesondere Lehrer Bröker in den Fächern "Deutsch, Religion und Geschichte" noch über unseren bisherigen Tellerrand blicken ließ und uns ein wenig in die Antike entführte und mittels Hexameter einen Blick auch in die griechische Mythologie tun ließ. Das war trotz ihrer Begrenztheit eine durchaus angenehme Zeit.


Anders war es im kirchlichen Unterricht. Hier galt es, sich für die große Prüfung vorzubereiten und das wurde vom Pastor ganz besonders intensiv getan. Alles, was wir in den zurückliegenden 2 Jahren gelernt hatten, und dies meist auswendig, wurde wiederholt. Es war eine echte Strapaze und der Pastor duldete weder Lachen noch sonst eine Unaufmerksamkeit.


Aber einmal hatte es mich dann doch erwischt. Und das kam so:
Kurz vor einer der letzten Unterrichtsstunden hatte ich mich aus irgendeinem Grunde mit Niebuhrs Willi vom Dissenhofe mächtig geprügelt und wir rollten uns noch auf dem Klassenzimmerboden, eifrig sekundiert von den Übrigen. Als dann plötzlich der Ruf erscholl: "Bummel kommt", konnten wir beide uns nicht so schnell vom Boden erheben und der Pastor erwischte uns noch, wie wir mit hochroten Gesichtern und herunter hängenden Haaren aufstanden und unseren Plätzen zustrebten. Nun, für so etwas hatte der Pastor nun überhaupt kein Verständnis und noch bevor gebetet wurde, sollte ich das auswendig zu lernende Lied Nr. 199 Vers 1-3 aufsagen. Und obwohl ich - wie auch sonst meist - meine Lektionen gut konnte, kam dieses Mal nur Gestammel aus meinem Munde. Ich wurde deshalb verurteilt, zum nächsten Unterrichtstage das gesamte Lied abzuschreiben und vorzulegen. Und da ich bei unserer Rauferei auch nicht ohne Blessuren davon gekommen war, gab ich kurzerhand Niebuhrs Willi die Schuld an meinem Pech und ich hatte Wut im Bauch.


Im weiteren Verlauf der Unterrichtsstunde belehrte uns der Pastor nochmals an Beispielen über die Höherwertigkeit des Gotteswortes gegenüber dem der Menschen. So fragte der Pastor am Ende seiner Belehrung dann: "Nun, wem soll man mehr gehorchen, Gott oder den Menschen?" Und vor mir saß Niebuhrs Willi, der hatte Gott und die Welt vergessen, eifrig an seinen Fingernägeln gekaut und von alledem nichts mitbekommen. Natürlich war dem Pastor die Unaufmerksamkeit meines Vordermannes nicht entgangen und hart rief er: "Niebuhrs Junge!" Von dem harten Anruf des Pastors aufgeschreckt, schoß Niebuhrs Willi in die Höhe und stand mit offenem Munde ratlos da. Und in diesem Augenblick witterte ich meine Chance, mich an Niebuhrs Willi zu rächen und flüsterte ihm von hinten zu: "Den Menschen". Laut und deutlich gabs Willi von sich: "Den Menschen."


Was dann geschah, war das Werk von Sekunden. Den Pultdeckel einmal kräftig zugeschlagen, den Stuhl hinteraus an die Wand katapultiert und im Sprint an der Fensterseite der Klasse hoch und erst Niebuhrs Willi und dann mich gewämst und die Androhung hinterher, uns nicht konfirmieren zu wollen. Wütend wie nie zuvor, setzte sich Pastor Jansen wieder hinters Katheder, noch lange die Zunge mal in die rechte mal in die linke Backe geschoben.


Nun, Strafe und Prügel zu Hause und in der Schule, daß war ein Teil der Erziehung jener Zelt und wurden als verdient oder unvermeidlich hingenommen: aber nicht konfirmieren … ? Das hätte Schande über die ganze Familie und in der Gemeinde gebracht und mir war es erst wieder wohler, als nicht mehr davon gesprochen wurde und man auch zu Hause nichts erfahren hatte.


So kam unvermeidlich der Tag der Prüfung, die am Sonntag Judica stattfand, heran und die geschlagene 3 Stunden dauerte und sich listigerweise nicht nur an die Konfirmanden sondern auch an die anwesenden älteren Geschwister oder sogar an die Eltern richtete, indem der Pastor deren Vornamen aufrief.
Um auch die Gemeinde am Einschlafen zu hindern, wurde von Zeit zu Zeit ein Lied dazwischen gesungen und einmal gabs sogar mal ein leicht hörbares Gemurre als der kleine Pankoken Willi, der kaum über die Kirchenbank gucken konnte, die Frage nach dem 1. Gebot mit: "Du sollst nicht töten.", beantwortete und der Pastor mit den Worten "Das habe ich mir doch gedacht, daß du das nicht wußtest.", kommentierte. Doch auch diese Geduldssitzung ging vorbei und am nächsten Sonntag war Konfirmation.
Natürlich wurden wir Konfirmanden der damaligen Sitte entsprechend gekleidet. Für Jungs war der blaue Anzug und der erste Hut obligatorisch. Dazu ein gestärktes Vorhemd mit Kläppchenkragen und altmodischer Fliege. Von alledem bekam ich als letzter der Familie nur Schuhe und Hut neu, das übrige Mobiliar vom Bruder oder Vater und dies paßte dementsprechend auch.


Zum Kauf der Schuhe ging meine Mutter mit mir zum Schuhhaus Lepper Im Gehrenberg. Lepper sprach noch plattdeutsch und meine Mutter schärfte ihm eine: "Datse nu jau chraut chenaug ssind, dä Junge ess innen Wassen." Und das waren sie denn auch.
Aber es ging mir nicht allein so. Bei den durchweg bescheidenen Verhältnissen der damaligen Zeit wurde insbesondere bei den letzten der meist zahlreichen Familien nicht mehr viel investiert.
Im Gegensatz zur Prüfung jedoch war die Konfirmationsfeier mit 1. Abendmahl von einem ungewohnt milde gestimmten Pastor zelebriert, feierlich und tief beeindruckend. Den heute üblichen Rummel hinterher gab es damals noch nicht. Einen Kuchen zum Nachmittagskaffee und ein 1. Oberhemd war das außergewöhnliche dieses Tages.


Und eine Woche später kam ich in die Lehre zu einem Beruf von dem ich nicht die geringste Ahnung hatte und in dem ich dann doch 50 Jahre arbeiten durfte.